Die Anfänge der Akzidenz Grotesk sind nicht genau zu bestimmen. Sie hat viele Eltern und unzählige Töchter. Die Schriftgießerei H. Berthold in Berlin hat die AG, wie sie genannt wird, nicht erfunden, aber weltweit bekannt gemacht. Im Laufe der Jahrzehnte kamen neue Mitglieder der Schriftfamilie hinzu, meist als „Hausschnitt“ bezeichnet, also ohne einen Schriftentwerfer zu benennen. Entsprechend unsortiert und nicht immer nachzuvollziehen finden sich unterschiedliche Schnitte, Fetten und Versionen in den Schriftkatalogen der Firma zwischen 1898 und dem Zweiten Weltkrieg.

Der Neuanfang nach dem Krieg war wesentlich durch die Arbeit von G.G. Lange geprägt, der ab Anfang der 50er zunächst als freier Mitarbeiter, dann als Künstlerischer Leiter das Schriftangebot bei Berthold durchforstete, neue Schriften entwarf oder entwerfen ließ und den bestehenden Katalog ergänzte.

Die schweizerischen Typografie nach dem Krieg verwendete fast ausschließlich die Akzidenz Grotesk, wurde weltweit stilbildend und machte sie damit weltweit zum Bestseller. Sie war aber nur im Handsatz verfügbar. Für den Einsatz im Linotype Maschinensatz mussten die Formen so überarbeitet werden, dass sie auf beiden Systemen „dicktengleich“ waren, also gleich breit liefen. Das geschah mit den Matrizen für die Grade 6 bis 12 Punkt. Die größeren Grade von 14 bis 48 Punkt gab es weiterhin nur im Handsatz von Berthold. Diese gestaltete GGL zwischen 1956 und ’57 neu – daher der Name.

Während die originale AG recht lebhaft ist für eine Groteskschrift mit deutlichem Kontrast zwischen waagerechten und senkrechten Strichen, eher engen ovalen Formen und fast geschlossenen Endungen bei e, c und s, ist die AG57 strenger. Die Mittellänge ist höher, die Rundungen weniger oval und die Endungen offener. Allein am kleinen /a lässt sich das nachvollziehen: Der Abstrich unten rechts ist weg, der Bauch nach links wesentlich straffer und der Kopf aufgerichtet.

1957 kam die Helvetica auf den Markt als Antwort von Haas/Stempel auf den Erfolg der AG. Sie hatte ihrem Vorbild alle Eigenheiten ausgetrieben und wurde als Schrift ohne Eigenschaften ein Welterfolg. Die Grade der AG57 ab 14 Punkt hätten auch das Zeug gehabt, die Grundlage einer solchen neutralen Schrift zu werden. Sie wurde aber übersehen. Bis wir sie in unseren alten Schriftkästen entdeckten, wo sie nicht besonders bezeichnet war.

Erst ein Andruck des 20 Punkt Schnittes fiel uns auf und wurde zur Grundlage der neuen digitalen AG57.

Ag57 Schriftmuster 2
Andruck im Rahmen des digiS Projektes die Sichtbarmachung des Sichtbaren
Ag57 A Mit Koordinaten

Im Rahmen des digiS-Förderprogramms Digitalisierung 2021 entstand die AG75 als digitaler Font. Die Sichtbarmachung des Sichtbaren ist ein gemeinsames Projekt von Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin (SDTB), Erik Spiekermann Foundation gGmbH (ESF), Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin (KB) und Staatsbibliothek zu Berlin (SBB).

Erik Spiekermann hat dazu Alex Roth von neue foundry ins Boot geholt, der aus den Scans der Bleischrift in 20 Punkt und anderen Abbildungen der Akzidenz Grotesk 57 die neue, digitale Schrift entwickelte. Dazu musste er nicht nur die vorhandenen Buchstaben und Ziffern digitalisieren, sondern auch den Zeichensatz um viele Sonderzeichen und Akzente erweitern, die nicht zum Repertoire einer Handsatzschrift aus den 50er Jahren gehörten.

Aroth Erik

Der Font ist hier im Open Access verfügbar und darf für nicht kommerzielle Projekte verwendet werden.

Die Staatsbibliothek hat einen interessanten Artikel dazu veröffentlicht.

Ag57 Digitalisierung